Ludwig Kunz wurde am 15. Februar 1900 in Görlitz geboren und starb am 6. Juni 1976 in Amsterdam. Da gibt es doch tatsächlich jemanden, der seine bürgerliche Existenz aufgibt, um ganz für die Literatur und ihren Autoren zu leben. Dieser eine jüdische Görlitzer Bürger war Ludwig Kunz, Sohn eines Vaters mit gutgehender Strumpfwarenfabrik und 600 Mitarbeitern. Nach einem viermonatigen Besuch eines Staatlichen Technikums für Textilindustrie wurde er in der väterlichen Fabrik Verkäufer und dann Verkaufsleiter. Doch mit 23 Jahren nahm er Else Lasker-Schülers Initiative auf, sich für zu Unrecht vernachlässigte Autoren einzusetzen. Er gründete den Kulturkreis „Freie Gruppe Die Lebenden“ und gab dazu 1923–1931 das Flugblatt „Die Lebenden“ heraus, lud Autoren ein, Vorträge zu halten und aus ihren unveröffentlichten Werken zu lesen. Was für eine Leidenschaft für Dichtung und welch ein Enthusiasmus mit wenig Geld in einer bürgerlichen Stadt mit etwa 1000 jüdischen Bürgern ("für alle Produktiven, die sich an der Kunst freuen"). Nicht nur Autoren hatten die Möglichkeit sich neu zu präsentieren, sondern es erschienen z.B. auch Holz- und Linolschnitte von Felix Müller, Johannes Wüsten, Max Thalmann und Otto Kratzer. Mit den "Lebenden" waren Autoren gemeint, die im Gegensatz zu den etablierten "toten" Dichtern - wie Goethe oder Schiller - in ihrem Schreiben nicht gewürdigt wurden. Bekannte Zeitschriften des Expressionismus wie „Der Sturm“ oder „Die Aktion“ könnten Vorbild für ihn gewesen sein. Wobei er schon weiter ging, es kündigte sich Neuland an, denn Künstler und Dichter nachexpressionistischer und avantgardistischer Prägung dichteten und zeichneten für sein Flugblatt, das in 22 Nummern in einer Auflage von 500 Exemplaren im Selbstverlag literarische "Schubladentexte" mit Graphik veröffentlichte. Wir können heute zurückblickend gar nicht glauben, wer alles Ludwig Kunz seine Texte anvertraute: Oskar Loerke, Robert Musil, Max Hermann-Neiße, Wilhelm Lehmann, Paul Zech, Alfred Wolkenstein, Alfred Döblin, Gottfried Benn, Carl Hauptmann und Hermann Stehr neben vielen anderen, wie z.B. Thomas Mann, Herrmann Hesse und Stefan Zweig! Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 wurde der Familie Kunz das Leben zunehmend erschwert. Bereits 1934 durfte Ludwig Kunz sich nicht mehr am kulturellen Leben beteiligen. Noch einige Jahre harrte er in Görlitz aus und bemühte sich um den Familienbetrieb. Als dieser 1938 „arisiert“ wurde, floh er in letzter Minute mit dem Betriebswagen über die Grenze nach den Niederlanden. In den ersten Jahren lebte Ludwig Kunz in der kleinen Industriestadt Zaandam, unweit von Amsterdam. Als mit dem Krieg die Deutschen 1940 in den Niederlanden einfielen, folgte auch das nationalsozialistische System der Judenverfolgung: Fahndungslisten der gemeldeten Juden aus den Niederlanden als auch der Flüchtlinge wurden durch die Niederländer erstellt und die Juden durch ihre Polizei an die Besatzer zur Deportation zu übergeben. Durch eine frühzeitige Warnung konnte Kunz in Amsterdam untertauchen. Dort lernte „LuKu“, wie ihn seine Freunde hier nannten, im Untergrund niederländische Künstler und Dichter kennen, die im Widerstand aktiv waren. Diese Künstler, u. a. Karel Appel, Constant, Corneille, Lucebert, sollten 1948 als die internationale „Cobra“-Gruppe berühmt werden, zu der u.a. auch Dichter wie Gerrit Kouwenaar, Jan Elburg und Bert Schierbeek gehörten. Nach dem Krieg ließ Kunz sich in Amsterdam nieder und er erhielt die niederländische Staatsangehörigkeit. Seine Erlebnisse während des Krieges beschrieb er in seinem Buch in niederländischer Übersetzung „Weg door de Nach (Weg durch die Nacht). In seiner Erzählung „Sprong in he leven“ (Sprung ins Leben) beschrieb er dann 1949 seine Vorstellung von einer Rückkehr nach Deutschland, die auch in niederländischer Übersetzung erschien. Er gab von 1950 bis 1955 den Ableger der "Lebenden" das Flugblatt "de KIm" (Horizont) heraus, übersetzte holländische und insbesondere erstmals für Europa angloamerikanische Autoren und unterstützt auch hier die "Vergessenen" (u.a. Lucebert). 1965 erhält Kunz für seine Übersetzungen und sein Engagement, die niederländische Literatur im deutschsprachigen Raum populärer zu machen, den bedeutendsten niederländischen Übersetzerpreis. Er stirbt am 6. Juni 1976 in seiner Wahlheimatstadt Amsterdam. In Westdeutschland initiiert das Deutsche Literaturarchiv in Marbach einen Nachdruck "Der Lebenden". Einzig und allein in der DDR gibt es durch die 1966 beim Berliner Verlag Rütten & Loening von Ludwig Kunz herausgegebene Faksimile-Ausgabe sämtlicher Nummern der Lebenden, versehen mit einem Nachwort von Ludwig Kunz. Das Bonbon seiner Bedeutung zum Schluß: Görlitz verstieß Ludwig Kunz 1938 aus der Görlitzer literarischen Gesellschaft, New York dagegen stellt seine literarischen Flugblätter im Museum of Modern Art (das MOMA) aus! Was für ein Verlust für Görlitz an einer deutsch-jüdischen Kulturlandschaft!